In einem kleinen Laden kaufen wir Proviant für die nächsten zwei Tage. Beim Verstauen der Lebensmittel bringt uns der Gemüseverkäufer zuckersüsse Erdbeeren und Erik. Plötzlich steht der Ladenbesitzer neben uns und streckt uns zwei Bananen entgegen und kurz später Schokolade. Er erzählt, dass seine beiden Söhne in der Schweiz wohnen und drückt uns gleich noch eine türkische Spezialität in die Hand. Nach ein paar weiteren Erdbeeren lassen sie uns ziehen und wünschen gute Reise.
Die Landschaft ist traumhaft: Auf einer neu geteerten Strasse fahren wir erst durch Weideland, stets etwas steigend und kommen dann in einen dichten, grünen Wald. Wir kommen uns vor, als würden wir im Wallis auf die Alp fahren – nur auf viel besserer Strasse. 😉 Der Regen verfolgt uns auch heute und so steigen wir notgedrungen in unsere Regenkleider. Es entwickelt sich ein tropisches Klima unter der Jacke, aber ohne Regenschutz werden wir einfach zu nass. Auf dem Pass auf 1650 m.ü.M. kühlt es dann ab – wir packen uns für die Abfahrt warm ein. Kaum lassen wir es sausen, wird der Regen stärker und es beginnt sogar zu hageln. Zudem wechselt der Strassenbelag von Teer zu Pflasterstein: Eine rutschige Kombination. Der Belagswechsel deutet uns an, dass wir den Yedigöller-Nationalpark erreicht haben! Wir fühlen uns wie im Regenwald: Es ist genauso feucht, düppig und auch die Vegetation erinnert uns stark daran – dichter Wald mit umgestürzten Bäumen und saftig grünem Unterholz. Aufgrund des strömenden Regens verzichten wir auf die Besichtigung der Panorama-Stellen – sehen tun wir ohnehin nur Nebel. Auch sonst bleibt uns kaum Zeit, den Park zu geniessen, denn die Setzsteine in der steilen Abfahrt erfordern unsere höchste Konzentration mit konstantem Blick auf die Strasse. Unsere Hände frieren und schmerzen vom dauernden Ziehen der Bremsen. Wir verlassen den Park und das Jungel-Feeling wird perfekt: Festgepresste, rote Erde übersäht mit Steinen und mit Wasser gefüllten Schlaglöchern bildet unseren neuen Untergrund. Nebenan schlängelt sich ein Flüsschen durch die steilen, dunkelgrünen Bergflanken. Immer wieder weichen wir kleinen Erdrutschen aus, die Teile der Strasse überdecken oder weggetragen haben. Kurz vor dem Eindunkeln finden wir zwischen Strasse und Bach einen Zeltplatz.
Auch am nächsten Tag werden wir vom Regenwetter nicht verschont. Gerne nehmen wir die Einladung zum Çay an der Tankstelle an und warten, bis es wieder etwas trockener ist. Bei Gökçebey biegen wir ostwärts in ein Tal ein. Wir folgen dem Fluss und halten Ausschau nach einem schönen Platz fürs Zelt. Da wir noch etwas fürs Znacht brauchen, fahren wir ins erste Dorf, welches nahe bei der Strasse liegt und finden einen kleinen Markt und eine Bäckerei. Wir wollen am Verkaufsfensterli ein Brot und zwei Simit (eine Art Bretzel mit Sesam-Kruste) kaufen. Stattdessen werden wir in die Bäckerei hinein gewunken. Sogleich halten wir beide einen Simit und etwas zu Trinken in der Hand und werden ausgefragt. Wieder einmal kommunizieren wir mit vollem Körpereinsatz, da wir keine gemeinsame Sprache haben. Kaum haben wir den letzten Bissen runtergeschluckt, gibts nochmals einen Simit und ein Glas Süssgetränk aufs Haus. Wir werden gefragt, wo wir denn heute Nacht schlafen wollen und erklären, im Zelt. Da meint der Bäcker, dass wir doch auch zu ihm nach Hause kommen können. Zuerst sind wir uns nicht sicher, ob wir ihn richtig verstanden haben. Dann wissen wir nicht recht, wie wir auf ein solches Angebot reagieren sollen: Allzu gerne würden wir einfach ja sagen, aber etwas Zurückhaltung scheint uns irgendwie angebracht. Wir diskutieren etwas und als wir dem Bäcker endlich zunicken freut er sich richtig fest. Die Bäckerei wird aufgeräumt, unsere Velos irgendwo eingestellt und los gehts. Mit rasantem Tempo kurven wir durch die Gassen von Yenice: Feierabend ist nämlich noch nicht – zuerst muss noch das Geld bei belieferten Restaurants und Kiosks einkassiert werden. Unterwegs telefoniert Hanife mit allen möglichen Leuten und berichtet von uns. In die Wohnung im ersten Stock gelangen wir über eine steile Treppe ohne Geländer. Begrüsst werden wir von Hülye und ihrer Mutter. Die Frauen geben Sabine zwei Küsse auf die Backen, bei den Männern werden die Schläfen zweimal aneinander gedrückt.
Wir geniessen ein feines Znacht, zuerst eine Suppe, dann einen weiteren Gang mit Brot und viel Tee. Die Unterhaltung findet mit ein paar wenigen Brocken türkisch, wenig englisch und dem Natel-Übersetzer statt. Die Küche füllt sich langsam: Die Schwester von Hülye kommt mit Kind und Mann, inklusive dessen Schwester und Eltern, Hülyes Vater, … Auch wenn wir nicht mehr viel zu den Gesprächen beitragen können, geniessen wir es einfach, einen Einblick in eine türkische Familie zu erhalten. Selbstverständlich überlassen sie uns eines ihrer Betten und schlafen stattdessen auf dem Sofa.
Am nächsten Morgen wird uns ein feines Frühstück aufgetischt: Frisches Brot und Simit aus der Bäckerei, Oliven, Pommes, Käse und selbstgemachte Konfitüren. Auch jetzt taucht immer wieder Besuch auf, um die Touristen aus der Schweiz willkommen zu heissen. Dann, plötzlich ein Anruf, Los!, packen und auf Wiedersehen sagen! – das Auto zurück zu unseren Velos ist bereits auf dem Weg. Die Frauen drücken Sabine fest an sich. Sie haben uns richtig lieb gewonnen. Wir sollen doch das Velofahren sein lassen und in Yenice bleiben. Sabine kommen vor Rührung fast die Tränen. 🙂 Es ist einfach unfassbar, was uns diese Menschen in so kurzer Zeit geben.
Das Bäcker-Auto ist gefüllt mit frischem Brot und so gehts gleich mit Hanife auf Auslieferungstour. In den Quartieren wird laut gehupt und kurz später schauen Köpfe aus den Fenstern und Säcke und Eimer werden aus den oberen Stockwerken an Schnüren hinunter gelassen. Geld raus, Brot rein und weiter gehts. Wieder in der Bäckerei ist der Bäcker immer noch fleissig am Brote aus dem Ofen holen. In einer Pause zeigt er uns sein Reich und spannt uns anschliessend beim Brote in den Ofen schieben gleich als Helfer ein. Der Schulbusfahrer, der sich in der Bäckerei die Zeit vertreibt, lädt uns zum Çay ein und der Bäcker reicht uns dazu erneut frisch gebackene Simits. Mmmmmh, herrlich! Wir können so viele Geschenke fast nicht annehmen, da wir das Gefühl haben, nichts zurückgeben zu können. Der Abschied fällt wiederum sehr herzlich aus und uns wird klar gemacht, dass wir nächstes Jahr wieder vorbeikommen sollen. 🙂
Kurz vor Karabük setzt erneut der Regen ein. Kein Wunder ist hier alles so grün, bei so viel Nass… Karabük gefällt uns aber irgendwie nicht so. Wir essen Pide und Lahmacun und warten, bis sich das Wetter etwas bessert. Das klappt nicht so richtig und so fahren wir halt in strömendem Regen weiter nach Safranbolu. Hier hat es einen Campingplatz, wo wir zwei Nächte bleiben.
Safranbolu ist ein superschönes Städtchen. Es besteht aus vielen gut erhaltenen traditionellen Häusern (eine Art Riegelhäuser): Das Erdgeschoss ist aus Steinen gebaut worden und die meist zwei weiteren Stockwerke bestehen aus verputztem Fachwerk, das sich aus recht schmalen Fächern zusammensetzt (Wikipedia, hihihi). Bis zur Umsiedlung 1923 nach dem Unabhängigkeitskrieg ist Safranbolu grösstenteils von Griechen bewohnt worden. Es passt perfekt in unsere Route, denn Safranbolu war einst ein wichtiger Stützpunkt auf der Seidenstrasse. Als Überbleibsel dieser Zeit steht mitten im Zentrum das mächtige Gebäude der Karawanserei (Cinci Han). Etwas sehr touristisch ist es da schon. Da das Städtchen aber von vielen Türken besucht wird, sind die Preise trotzdem moderat. Wir geniessen die Sonne, flanieren durch die Gässlein, trinken türkischen Kaffee und kaufen viel Lokum (Süssigkeit aus festem Zuckersirup), für das Safranbolu bekannt sein soll.
Weiter gehts in Richtung Kastamonu. An unzähligen Strassen-Baustellen vorbei. Obwohl schon eine gute Strasse vorhanden ist, wird ein paar Meter daneben eine neue, breitere Strasse gebaut. Dies geschieht irgendwie an jeder Ecke in der Türkei. Aber wir wollen uns nicht beklagen, der Belag ist meist sehr gut, mit viel weniger Löcher als noch im Balkan und mit breitem Seitenstreifen.
Kurz vor Araç finden wir auf einer Wiese im Wald ein flaches Plätzchen für unser Zelt. Wir haben noch nicht ganz eingeräumt, hält ein Auto und ein älterer Mann steigt aus. Wir erklären die Situation und er ist fasziniert von unseren Velos und dem Zelt. “Güzel!” (Schön), “Çok güzel!” (Sehr schön) murmelt er ohne Pause. 🙂 Es beginnt zu regnen und er verschwindet in seinem Auto und wir im Zelt.
Am nächsten Morgen sind wir gerade dabei, unsere letzten Sachen in die Taschen zu verstauen, da taucht Neçati wieder auf. Er hat für uns beide einen Simit und ein Wörterbuch dabei. So erfahren wir, dass er Biologie studiert hat und Bürgermeister seines Dorfes ist. Wir sollen mitkommen und folgen ihm an eine Lucke im Wald, von wo aus wir sein Dorf und Haus sehen können. Wenn wir nächstes Jahr kommen, seien wir seine Gäste! Dann verabschieden wir uns und fahren ins Städtchen. Vor dem Rathaus stehen viele Menschen im Anzug, die uns herbeiwinken und einen Çay anbieten. Ob wir hungrig seien? Nein, nach Zmorge im Zelt + Simit. Ob wir müde seien? Noch nicht, da seit gerade einmal 10 Minuten auf dem Velo nach einer erholsamen Nacht… 🙂
Als wir aus Araç fahren wollen, sitzt Neçati im letzten Kaffee und winkt. Er hat auf uns gewartet, damit wir zusammen Çay trinken können. Ein Journalist der Lokalzeitung sitzt dazu. Und so trinken wir Tee um Tee. Es ist schon fast Mittag, als wir weiterfahren.
Kastamonu gefällt uns sehr mit seinem Fluss mitten durch die Stadt und dem belebten Zentrum. Wir fahren aber ohne zu halten durch, da wir mit unserem Couchsurfing-Gastgeber auf der anderen Seite, schon etwas ausserhalb der Stadt, abgemacht haben. Mit dem Auto fahren Caner und Fazlı voraus und bringen uns in ihre 4er-Männer-WG. Dort liegen überall OL-Karten und bald stellt sich heraus, dass zwei von ihnen im türkischen OL-Nationalteam sind. In der Türkei in einer OL-WG zu landen, damit hätten wir nicht gerechnet. 🙂 Zusammen mit einigen ihrer Freunde essen wir ein türkisches Gericht: Tavuk Sote (Poulet, Peperoni, Tomaten und Zwiebeln werden in einer grossen breiten Pfanne gekocht. Mit Brot wird dann aus der Pfanne gegessen). Anschliessend gibts natürlich Çay und später gehen wir auswärts einen türkischen Kaffee trinken. Sämy schlägt sich gut im Backgammon. Sabine hingegen kommt gar nicht erst mit, so schnell sind die Jungs mit ihren Zügen…
Wir verbringen einen lustigen Abend mit Kartenspiel, weiterem türkischem Kaffee und Kaffeesatz Lesen (die App hilft Şafak, unsere Zukunft zu erfahren ;-)).
Nach wenigen Stunden Schlaf steht Caner bereit. Was wir heute machen wollen? Er habe drum ein Programm für uns. 🙂 Also los, zum Frühstück gehts auswärts und wir essen mit Schokolade gefüllte und gewärmte Simits. So fein! 🙂 Anschliessend fahren wir mit dem Bus ins City-Zentrum und machen etwas Sightseeing. Der Regen ist wieder Spielverderber und so kehren wir am Nachmittag in die WG zurück.
Nun wollen wir an die Schwarzmeerküste. Wir fahren bis Sarıyonka und über Devrekani Richtung Çatalzeytin an der Küste. Dabei müssen ein paar Pässe bezwungen werden. Wir durchfahren eindrückliche, ewige Karst- und später Waldlandschaften. Auf einem Pass machen wir eine Çay-Pause. Als Resultat des versuchten Smalltalks mit dem Restaurant-Inhaber, fahren wir mit einem halben Kilo Honig weiter… Wir wollten eigentlich nur wissen, ob er selbst imkert und alle Versuche ihm zu erklären, dass wir keinen Honig kaufen möchten, da seine Gläser zu gross und zu schwer seien scheitern: Er treibt einen kleineren Behälter auf und füllt eines seiner Kilo-Gläser kuzerhand in den Kleineren um, et voilà! 🙂
Dann endlich: Nach 1500 Höhenmeter bergab erreichen wir das Schwarze Meer! Doch das Ferienfeeling ist nur von kurzer Dauer: Die Küstenstrasse ist ein einziges Auf und Ab und verschwindet immer wieder ins Landesinnere. Regenschauer erleben wir auch hier täglich. Aber zwischendurch trocknet und wärmt uns die Sonne wieder innert kürzester Zeit. Wir fahren nach Sinop, wo wir in einem Restaurant feine Mantı (türkische Ravioli) an einer Nusssauce mit Joghurt essen. Auf dem Weg zum Campingplatz kommen wir in ein Gewitter: Es ist schon Nacht, doch Blitze erhellen die ganze Gegend. So strampeln wir bei strömendem Regen dem Meer entlang. Aufgrund weiterhin düppigen Verhältnissen öffnet Sämy seine Regenjacke weit. Das hätte er jedoch lieber lassen sollen, denn ein entgegenkommendes Auto spritzt das Wasser aus dem Schlagloch direkt in sein Gesicht und an den Bauch. Beim Camping sieht alles etwas ausgestorben aus. Doch stehen wenige Zelte und es brennt Licht. Wir lassen die Velos vor der geschlossenen Schranke stehen und klopfen an der Küchentür. Piet, ein deutscher Töfffahrer auf dem Weg nach Südkorea, begrüsst uns. Er hat vom Chef die Schlüssel erhalten und so kommen wir zu einer warmen Dusche und können unsere Mätteli im Büro des Chefs auslegen. Seit Istanbul geniessen wir wieder einmal ein Bier. Das erhält man hier in einer schwarzen Tasche und nur in speziellen Alkohol-Shops. Es ist verhältnismässig sehr teuer: 6 TL = 2 CHF (Im Vergleich dazu: 1kg Gemüse kostet 2 TL…). Spät abends kommt der Chef doch auch noch vorbei und noch später sechs Studenten, die das Wochenende hier verbringen. Wir setzen uns zusammen um ein Lagerfeuer und singen abwechselnd auf türkisch (sie) und englisch (wir) zu Piets Gitarrenbegleitung.
Am nächsten Tag begrüsst uns herrlicher Sonnenschein. Bei warmen Temperaturen fahren wir ostwärts. Wir kommen gut voran, geniessen in Gerze einen Dürüm und Pide zum Zmittag und fahren ein gutes Stück auf einer Art Autobahn, die ins Meer hinein gebaut worden ist. Wir finden einen Schlafplatz unweit vom Wasser. Nach einem Waschgang im Fluss kochen wir am Strand Znacht. Bevor wir uns Schlafen legen, machen wir noch ein kleines Lagerfeuer. So haben wir auch ein bisschen Pfingstlager-Feeling. 🙂
Dann erreichen wir Samsun: Wir fahren weiter dem Meer entlang, wo sich ein Park an den Nächsten und ein Kaffee ans Nächste reiht. Hier kommen gleich wieder Feriengefühle auf. Wir lagern auf dem Staatscamping und geniessen das Nichtstun. Die Sonne macht es uns leicht, so richtig faul zu sein.
Auf Empfehlung einiger Türken entscheiden wir uns, den Bus nach Zentralanatolien zu nehmen und Kappadokien einen Besuch abzustatten. Erneut gibt es Diskussionen, wie um alle Welt unsere Velos in den Stauraum des Buses zu bekommen seien. Doch dauern die Gespräche länger als der eigentliche Packvorgang und 5 Minuten später sitzen wir im Bus. Um Mitternacht gehts los: Wir wissen nicht genau, wie viele Stunden die Fahrt dauern wird und schliessen die Augen.